"Wir sind Loser, wir müssen liefern!" Wolf Lotter im Klartext
Er hat keine Angst vor Donald Trump oder Elon Musk. Denn viel schlimmer als die US-amerikanischen Industriemanager sei unsere intellektuelle Faulheit, sagt Wolf Lotter. Unermüdlich schreibt er gegen sie an. Die Fakten sprechen für ihn.

Wolf Lotter ist Autor und Journalist mit dem Schwerpunkt Transformation und Innovation. Er war Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins "brand eins“ und ist seit 2022 iMitglied im Publikumsrat des ORF. Seine Bücher gelten als Grundsatzwerke in Sachen Innovation und Transformation und sind jeweils in mehreren Auflagen erschienen.
Wolf Lotter, machen Sie sich Sorgen um Europa?
Nein, allein schon deshalb, weil Europa kulturell und politisch sehr unterschiedlich
ist – und wenn Sie auf Trump, Putin und Xi abzielen, dann könnten die als paradoxe Intervention ganz heilsam sein. Wir, die Wohlstandsnationen Europas, realisieren gerade, dass uns die USA und China gar nicht brauchen. Das bringt Bewegung ins Spiel und könnte endlich dazu führen, dass wir uns intellektuell anstrengen und Richtung Transformation bewegen.
Sie sagen „intellektuell anstrengen“. Scheitern unsere Transformationsprozesse
an Faulheit?
Na klar! Wir sind, um mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zu sprechen, intellektuell faul geworden. Und jetzt kommt auch noch künstliche Intelligenz, die uns angeblich alle automatisch klüger macht, was eine sehr dumme Position ist. Das Muster ist immer dasselbe: Wir weisen Verantwortung und geistige Anstrengung strikt von uns. Das gilt für alle Bereiche der Transformation.
Wir starten mit „Die Geschichte unserer Zukunft“ ein digitales Medium zur Transform-ation von Wirtschaft und Gesellschaft und setzen auf drei Themen: Kreativität, Spirit-ualität und Sexualität. Was halten Sie davon?
Sexualität und Spiritualität halte ich für Privatsache, eine persönliche Angelegenheit. Wenn es um Kreativität geht, haben Sie in mir aber einen sehr interessierten Gesprächspartner.
Bei Kreativität geht es unter anderem um Risikofreude. Man muss riskieren wollen, loslassen und die Kontrolle aufgeben können. Das sind alles Themen, die unsere Sex-ualität bestimmen. Würden Sie sich zum Thema Transformation einen Podcast mit einer Sexualtherapeutin anhören?
Es kommt darauf an, wer spricht. Als junger Mensch habe ich mir gerne Gespräche mit Ernest Bornemann angehört, ich lese gerne Wilhelm Reich. Ich bin aber auch hier kein Freund pseudointellektueller Erregungszustände.
Ein Beispiel: Vielen Führungskräften ist nicht bewusst, dass sie Projektionsflächen für sexuelle Bedürfnisse sind – zum Beispiel die Vaterfigur. „Der Papa wird es schon richten“, denken viele und meinen mit Papa ihren Chef. Wirken sich solche Projektionen hemmend auf Transformationsprozesse aus?
Ja, aber ich würde in diesem Fall nicht von Sexualität, sondern sozialer Unverantwortlichkeit sprechen. Natürlich geht es vielen Angestellten um eine Verlängerung ihrer Kindheit. Sie wollen Überväter oder Übermütter, die ihnen sagen, dass alles gut wird und süße Träume wünschen. Diese Verlängerung der Kindheit wird von Unternehmen ja auch angeboten: Sie versprechen Sicherheit und Verlässlichkeit. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun.
(Foto: „Verlängerung der Kindheit“, Erstellt mit DALL-E von OpenAI)

Spiritualität ist für Sie Privatsache?
Ja. Wie definieren Sie denn Spiritualität?
Spiritualität ist das menschliche Bedürfnis, sich mit etwas Größerem als dem Körper zu verbinden. Gegenfrage: Was ist der Mensch?
Ja, was ist der Mensch? Gehen wir mal in die Ergebnisse: Kulturgeschichtlich betrachtet würde ich sagen: „Der eigentlich nicht immer so schlecht gelungene Versuch, sich das Leben leichter zu machen.“
Im Silicon Valley, dem Machtzentrum der US-amerikanischen Tech-Elite, träumt man von Transhumanismus, zu Deutsch „Übermenschlichkeit“. Was halten Sie davon?
Das kommt darauf an, wie man Transhumanismus versteht, es kann ja auch etwas ziemlich Richtiges bedeuten: Gegen technologische Vorstöße wie Prothesen oder Krebstherapien ist nichts einzuwenden. Das ist nützlicher Fortschritt. Aber es gibt im Transhumanismus auch eine technokratische, also ideologische und religiöse Ebene.
Da wird davon gesprochen, die Seele zu dekodieren und unsterblich zu machen, indem man sie in eine Maschine überträgt. Das ist meiner Meinung nach Schwachsinn und eine klassische Technokratenidee, und Musk ist ein lupenreiner Technokrat. Menschen so gestalten zu können, dass sie nicht mehr fehleranfällig sind. Das ist eben purer Faschismus.
Hat der Mensch ein Bewusstsein?
Ja.
Haben Maschinen ein Bewusstsein?
Nein.
Die ideologische Elite, die jetzt mit Trump an die Macht kommt, hat andere Vorstellungen von Bewusstsein.
Nochmals: Leute wie Elon Musk oder Raymond Kurzweil (Zukunftsforscher und Chefent-wickler bei Google) sind Technokraten, Industriemanager, die streng deterministisch und mechanistisch denken. Aber das ist nichts Neues. Der klassische Industriemanager hat immer so gedacht. Henry Ford hat so gedacht, Technokraten denken seit 250 Jahren so. Sie sind nicht in der Lage, Menschen anders zu verstehen als die Werkzeuge, die sie erschaffen. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit einer Ökonomin geführt habe. Sie war fest davon überzeugt, dass das Gehirn eine Maschine sei. Zahnräder, die ineinander greifen.
Machen Sie sich keine Sorgen, dass solche Leute jetzt an die Macht kommen?
Die sind schon lange an der Macht! Sie sind ein Phänomen der Moderne. Es gibt nur unterschiedliche Eskalationsstufen.
Sie haben keine Angst vor Trump und Musk?
Nein, ich fürchte mich weder vor Musk noch vor Trump. Wissen Sie warum? Weil sie explizite Irre sind. Sie zeigen im Prinzip ja nur, dass es möglich ist, mit Irrsinn durchzukommen
Wie sollen wir handeln?
Das ist die einzige Frage, die mich heute interessiert. Es reicht nicht zu sagen, dass die Bösen da drüben sind. Wir müssen beginnen, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen.
Wir leben in einer unselbstständigen Kultur, in der es für die meisten Menschen normal ist, dass sie zur Schule gehen, eine Lehre machen oder studieren, arbeiten und dann in Rente gehen. Genau so eine unselbstständige Kultur braucht es, damit Leute wie Musk oder Trump groß werden können. Die liberalen Eliten – ich weiß, dass dieser Begriff nicht besonders beliebt ist – waren in den letzten Jahren, intellektuell betrachtet, einfach zu schwach auf der Brust. Es gab ein paar Sozialwissenschafter, die gute Arbeit geleistet haben, aber die sind leider am Rand geblieben. Es ist einfach zu wenig passiert, und wenn ich die Probleme, die es zu lösen gibt, nicht löse, dann bin ich ein Loser.
Und jetzt kommt KI: Wird alles besser? Oder schlimmer?
KI ist eine Phrase und vor allem eine Marketing-Idee. Was bekommen Sie denn, wenn
Sie sich mit Sprachmodellen wie Gemini oder Chat-GPT auseinandersetzen? In Wirklichkeit bekommen Sie Antworten, die semantisch feiner formuliert sind als jene, die eine Suchmaschine wie Google liefert. Hinter KI stecken Algorithmen, die sich aus den Beständen des Webs alles Mögliche zusammenklauen. Das ist urheberrechtlich interessant, aber mehr nicht.
KI wird uns nicht erlösen?
Nein, nur Selbstverantwortung führt zu Selbstbestimmung. Alles andere ist Selbstbetrug.
Wie meinen Sie das?
Ich beschäftige mich seit 40 Jahren mit dem Thema Transformation und Wissensökonomie und beobachte immer dasselbe Muster: Wir fallen auf Pseudotechnologien rein. Wir warten auf den Wundercode. Das sind Erwartungen einer Wohlstandsgesellschaft, die glaubt, es gäbe eine Maschine, die alle unsere Probleme löst. Dasselbe gilt im Übrigen für die Digital-isierung. Was verstehen wir denn darunter? Wir verstehen darunter, Computer, Netzwerke oder Algorithmen, die wir für Organisations- oder Produktionstätigkeiten einsetzen. Damit nutzen wir sie aber nur als Werkzeuge, ähnlich wie einen Schraubenzieher oder eine Schere. Was hat denn das mit Transformation zu tun?
Unsere Digitalisierung hat nichts mit Transformation zu tun?
Nein, in den meisten Fällen nicht. Schauen Sie sich die Studien von Nobelpreisträgern wie Acemoglu an! Die Digitalisierung bringt kaum Produktivitätszuwächse. Das ist eine Tatsache. Ich finde Computer super. Aber vieles ist einfach eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wir bauen Computer, weil wir Computer bauen können, und wir sind damit so beschäftigt, nicht den Anschluss zu verlieren, dass sich niemand mehr fragt, warum wir das eigentlich machen. Mehr will ich gar nicht: Warum sagen. Und kritisch nachfragen.
(Foto: „Warten auf den Wundercode“, Erstellt mit DALL-E von OpenAI)

Darf ich ehrlicherweise fragen, ob Sie uns Menschen nicht überschätzen? Wird das Schicksal der Menschheit nicht vielmehr von Dummheit bewegt als von Wahrheit?
Ja, das glaube ich auch. Aber die Krise wird dazu führen, dass Leute darüber nachdenken, wie sie ihre Miete bezahlen können. Es wird mit Sicherheit eine Katharsis geben, wir sind schon mittendrin. Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich die aktuellen Entwicklungen gar nicht so schlecht finde, denn wäre es anders gekommen, hätte die Trägheit des Geistes noch größeren Schaden angerichtet. Jetzt haben wir die Irren sozusagen vor uns und sehen, was sie machen.
Sie haben Hoffnung?
Ja, ich setze und hoffe auf die bewussten und fähigeren Leute. Wir müssen liefern!
Wolf Lotter, vielen Dank für das Interview.